Das Konzept der effektiven Geschwindigkeit

Ein sehr interessantes Gedankenspiel. Weil es mich sehr ins grübeln gebracht hat, womit ich meine Zeit verbringen möchte, krame ich es hier mal hervor:

Wie schnell sind wir wirklich? Das Konzept der effektiven Geschwindigkeit

Schaut man sich die Zahlen des Berliner Senats (oder eines Tachos) an, dann sind Autos deutlich schneller als Fahrräder. Doch Geschwindigkeit lässt sich auch anders denken: Im Konzept der »effektiven Geschwindigkeit« sind Fahrräder (und manchmal auch Fußgänger) fast immer schneller als Autos unterwegs.

Wie schnell bewegen wir uns in Städten? In Berlin liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit für Autos bei rund 25 km/h. Diese Zahl berücksichtigt die Zeit vom Beginn einer Fahrt bis zu ihrem Ende. Doch wann fängt eine Fahrt wirklich an? Zählt die Zeit, die man braucht, um die Windschutzscheibe freizukratzen oder einen Reifen aufzupumpen dazu? Zählt das Schuhebinden dazu? Oder die Stunde im Büro, in der man das Geld verdienen muss, um das Benzin für die Heimfahrt oder den Fahrradmechaniker finanzieren zu können?
Will man die Geschwindigkeit berechnen, so dividiert man gewöhnlich die Reisestrecke durch die für die Reise notwendige Zeit. So kommt man auf Kilometer pro Stunde. Radfahrer in Berlin kommen dann auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 12,3 km/h im Vergleich zu 24,9 km/h der Autofahrer. Der Unterschied wirkt groß – aber was passiert, wenn wir die Zeit hinzurechnen, die Rad- und Autofahrer investieren, um ihre Transportmittel zu kaufen und zu unterhalten? Es wird Zeit, dass wir unser Konzept von Geschwindigkeit überdenken. Aber was sollten wir dann einschließen? Glücklicherweise gibt es Alternativen.

Das Konzept der effektiven Geschwindigkeit

Das Konzept der »effektiven Geschwindigkeit« ist eine solche Alternative. Das zugrundeliegende Prinzip findet sich schon in Henry David Thoreaus Walden von 1854: Er stellte fest, dass er zu Fuß schneller um die Welt käme als ein Freund, der den Zug nähme. Denn um die Fahrkarten zu finanzieren, müsste der Freund erst lange arbeiten. Damit hat Thoreau bereits den Kern des Konzepts der effektiven Geschwindigkeit beschrieben: Die gesamte Zeit, die man aufwendet, um mobil zu sein, wird hierbei in die Distanz-pro-Stunde-Kalkulation eingerechnet.

Das heißt, man misst die Geschwindigkeit in den selben Kategorien (Distanz pro Zeiteinheit), aber man bezieht mehr in die Messung ein als die reine Fahrzeit. Meine persönliche effektive Geschwindigkeit auf dem Fahrrad liegt etwa bei 15,5 km/h (ich lebe in Berlin, verdiene etwas weniger als ein öffentlicher Angestellter, fahre schnell mit meinem nicht allzu teuren Fahrrad und komme geschwitzt an).
Ich fahre mit dem Rad durchschnittlich 17 km/h, verdiene etwa 15 € die Stunde und gebe etwa 300€ im Jahr für mein Fahrrad aus. Die durchschnittliche Geschwindigkeit für Autos liegt in Berlin bei 24,9 km/h und der ADAC schätzt die Kosten für einen Renault Twingo auf 4392€ und für einen Mercedes S 500 auf 24.792€ im Jahr.

Wenn ich dieselbe Distanz mit einem eigenen Auto in Berlin zurücklegen würde, läge meine effektive Geschwindigkeit mit einem Renault Twingo bei etwa 8,1 km/h und mit einem Mercedes S500.3 bei etwa 2 km/h. (Dabei gilt: Wenn ihr mehr verdient als ich, dann seid ihr “schneller”!).

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Natürlich könnte ich diese Rechnung noch ausbauen, indem ich das Ölen meiner Kette, das Aufpumpen der Reifen und die Rechnung für den Fahrradmechaniker einrechnen würde. All das sollte eigentlich miteinbezogen werden, wenn man über die Geschwindigkeit redet, mit der man sich bewegt. Paul Tranter, ein Associate Professor an der University of New South Wales in Canberra führt solche ausführlichen Berechnungen durch. Er hat aufgezeigt, dass Stadtbewohner 10 bis 15 Jahre früher in Rente gehen könnten, würden sie statt des Autos das Fahrrad nehmen! Tranter berechnet auch die sogenannte »soziale Geschwindigkeit«, also die effektive Geschwindigkeit plus die externen Kosten, die die Gesellschaft tragen muss (z. B. den Straßenbau und -unterhalt, die Gesundheitsschäden aufgrund von Lärm und Treibhausgasen).

Aber zurück zur effektiven Geschwindigkeit: Tranter rechnet vor, dass seine Heimatstadt Canberra einer der wenigen Orte ist, in denen man wirklich schnell radeln muss, um mit einem Auto mitzuhalten (21,5 km/h). In Melbourne, Tokyo oder Los Angeles liegt die effektive Geschwindigkeit von Autos bei nur 14 km/h, in Hamburg bei 12 km/h und in London oder Delhi bei rund 8 km/h. Das sollten fast alle Fahrradfahrer schaffen.*

Wenn ihr das nächste Mal in euer Auto steigt, euch aufs Rad schwingt oder den Segway nutzt, erinnert ihr euch vielleicht daran, wie schnell ihr wirklich unterwegs seid. Besser noch, denkt am Ende eines langen Tages darüber nach, ob die letzten ein, zwei Stunden, die ihr im Büro sitzt, es wirklich wert sind, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Alles in allem geht es nicht nur um zwei Stunden, sondern vielleicht um zehn Jahre.

*Tranter, P., 2012, ‘Effective Speed: Cycling Because It’s “Faster”’, in J. Pucher and R. Buehler (Hg.), City Cycling, MIT Press, Cambridge, Massachusetts.